„Fragt uns doch einfach! Obdachlosigkeit in Kreuzberg geht uns alle an“ fand am 21.01.2020 im aquarium statt und war die 3. Veranstaltung in der Reihe „Sichtbarkeit, Beteiligung und Kommunikation“, die das Netzwerk „#Planungsräume neu vernetzt“ veranstaltet. Zu diesem netzwerk gehören Kreuzberger Gemeinwesenarbeiter*innen von Kotti e.V., Familienzentrum Wrangelkiez und dem Nachbarschaftshaus Urbanstraße.
Das Ziel der Veranstaltung war, Bewohner*innen der verschiedenen Kreuzberger Planungsräume zu informieren und zu sensibilisieren. Im Vordergrund standen dabei die Betroffenenperspektiven, die hör- und sichtbar gemacht wurden. Ebenfalls konnten Initiativen zeigen, wo man als Nachbar*in unterstützen und helfen kann. Die Vernetzung zwischen Nachbar*innen, Initiativen, Betroffenen und weiteren Akteur*innen wurde durch diese Veranstaltung initiiert. Insgesamt kamen rund 200 Besucher*innen ins aquarium.
Zur aktuellen Situation von Obdachlosen berichteten Betroffene zunächst, dass Gewalt, Diebstahl und Rassismus gegenüber Obdachlosen von Tag zu Tag schlimmer wird – und das nicht nur in Berlin. Weitere Kernaussagen der Podiumsteilnehmer*innen waren:
Dietlind, eine Vertreterin des Wohnungslosenparlaments, die in den letzten 10 Jahren selbst immer wieder auf der Straße gelebt hat, beschreibt eindringlich: „Es ist eine menschliche Überforderung auf der Straße zu leben. Obdachlose haben kein Vertrauen mehr – weder in die Politik, noch zu irgendjemandem, der neben ihnen liegt. Die Gewalt ist einfach so elementar geworden, dass sich Leute schon in eine andere Welt bewegt haben. Sie sind zwar noch körperlich anwesend, aber geistig schon ganz wo anders.“
Nora, aktiv in der Initiative Schlafplatzorga, die Schlafplätze für Menschen mit und ohne Papiere organisiert, ergänzt die Erfahrungen von Menschen mit Migrations- bzw. Fluchtgeschichte: Neben den schwierigen Lebensumständen und Gewalt in vielen Unterkünften kommt die Angst vor Abschiebung dazu, die immer mehr Menschen veranlasst, ihre Unterkünfte zu verlassen.
Alexandra von KUB (Kontakt und Beratungsstelle), die niedrigschwellige Hilfsangebote für junge Menschen bieten, deren Lebensmittelpunkt die Straße ist, richtet die Aufmerksamkeit der Zuhörer*innen auf eine besondere Zielgruppe: Minderjährige, die auf der Straße leben. Sie macht deutlich, dass diese Jugendlichen oft kein konformes Verhalten zeigen. Dabei muss man verstehen, warum sich jemand so verhält, wie er es eben tut. Dahinter stehen zahlreiche Geschichten von Gewalt in der Familie oder Missbrauch, dem sie sich nur durch Flucht entziehen können.
Sebastian von Fixpunkt erläutert zur Arbeit mit substanzbrauchenden Personen, die ein HIV-Risiko haben: „Menschen haben große Probleme in die reguläre Gesundheitsversorgung zu kommen, wenn sie keine Versicherung haben, keine Leistungsansprüche nach SGB II oder XII oder illegalisiert sind. Unser Fokus ist also die Gesundheitsversorgung und die Menschen in den Leistungsbezug zu bekommen bzw. zu versuchen, an der gesundheitlichen Situation etwas zu ändern.“
Wojciech von der Berliner Stadtmission hilft, einen genaueren Blick auf die Situation der Obdachlosen aus Osteuropa zu gewinnen, die er sozialarbeiterisch betreut: Menschen z.B. aus Polen kommen hierher und suchen Arbeit, weil die ökonomische Lage zuhause schlecht ist. Sie suchen hier eine Perspektive, verlieren aber nach ein paar Monaten ihren Job, weil sie auch häufiger vom Arbeitgeber betrogen werden und landen dann schnell auf der Straße. Andere kommen schon als Obdachlose und hoffen, dass ihnen das bessere Sozialsystem in Berlin hilft. Wieder andere haben Schulden oder wollen nicht in einem Gefängnis sitzen.
Matze, der bei der Berliner Obdachlosenhilfe organisiert ist, erläutert, dass Hilfsangebote manchmal in die falsche Richtung gehen: „Wenn ich drei Mal am Tag eine Currywurst angeboten bekomme, muss ich dann auch mal nein danke sagen. Oftmals ist das schwer zu vermitteln, weil die Leute es doch gut meinen. Aber wichtiger wäre eben, erklären zu können, was in dem Moment dringlicher fehlt.“ Auf Senatsebene ist das nicht anders, stellt Matze fest: „Ich kenne keine Obdachlosen, die zu ihren Bedarfen befragt wurden. Und dann wird eben von oben bestimmt, was angeboten werden soll.“
Abschließend wurden die Podiumsteilnehmer*innen gebeten, ihre Wünsche zu formulieren. Sebastian von Fixpunkt wünscht sich, „dass man nicht die Sucht in den Vordergrund stellt, sondern die Sozialsituation, die Bedarfe und Lebensgeschichten der Menschen. Sucht ist nicht immer das größte Problem, das geschildert wird. Suchtproblematiken sind dynamisch und verändern sich z.B. wenn sich das Lebensumfeld ändert, wenn man eine Wohnung oder einen Job bekommt.“
„Man kann die Lösung des Problems zwar nicht auf individuelle Schultern hiefen“, betont Nora von der Schlafplatzorga, „aber gerade in unserem Projekt geht es darum, dass Menschen sagen, meine Couch ist gerade frei, die kann genutzt werden. Und dieser Gedanke, dass der eigene Wohnraum als etwas, das solidarisch genutzt werden kann, wahrgenommen wird, das würde ich mir wünschen.“
Abschließend bringt Matze es auf den Punkt: „Ich wünsche mir Raum für ein selbstbestimmtes Leben, das so unbürokratisch wie möglich ist und einen respektvollen Umgang von allen Nationalitäten für alle Nationalitäten.“
Die Dokumentation zur Veranstaltung sowie Informationen über Unterstützerorganisationen können voraussichtlich ab Ende März 2020 abgerufen werden unter: www.rundumkotti.de